A blog on why norms matter online

Saturday, December 10, 2011

Sternstunde der Menschlichkeit: zum Tag der Menschenrechte 2011

„Immer müssen Millionen müßige Weltstunden verrinnen“, schrieb Stefan Zweig 1927, „ehe eine wahrhaft historische, eine Sternstunde der Menschheit, in Erscheinung tritt.“ Solch ein Ereignis von weltweiter Bedeutung fand am 10. Dezember 1948 in New York statt: Es sollte nicht nur eine Sternstunde der Menschheit, sondern eine Sternstunde der Menschlichkeit werden. An jenem kalten Dezembertag, der sich, heute, am 10. Dezember 2011, zum 63. Mal jährt, nahm die in den noch jungen Vereinten Nationen versammelte Staatengemeinschaft eine wegweisende Resolution an. Mit 48 zu 0 Stimmen bei acht Enthaltungen gab die Generalversammlung einem Dokument von fundamentaler Bedeutung seine Zustimmung: der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR).

Wenn die Menschenrechtshochkommisarin der Vereinten Nationen, Navi Pillay, heute vom "Imperativ von Tunis" spricht, dann baut sie auf ein Fundament auf, das von der AEMR gelegt wurde. Wir befänden uns, so Pillay, an einem Scheidepunkt der Weltgeschichte. Wir müssten uns deklarieren. Für die Menschenrechte.

"There are moments in history when each of us is called upon to declare where we stand. I believe this is one of those moments.
Over the past year, in Tunis, Cairo, Madrid, New York and hundreds of other cities and towns across the globe, the voice of ordinary people has been raised, and their demands made clear. They want human beings at the centre of our economic and political systems, a chance for meaningful participation in public affairs, a dignified life and freedom from fear and want.
Remarkably, the spark that lit the fire of the Arab Spring, which would eventually spread to cities across the globe, was the desperate act of a single human being who, repeatedly denied the most basic elements of a life of dignity, set himself alight, and, in doing so, declared that a life without human rights, is not a life at all. But the dry kindling of repression, deprivation, exclusion, and abuse had been piling up for years, in Tunisia, across the region, and beyond."

Die Bedeutung der AEMR für diese Entwicklungen, für die Verfestigung der Menschenrechte im Weltgewissen, ist kaum zu überschätzen. Dies rechtfertigt einen Blick zurück: Das vorrangige Rational der noch nicht den konfrontativen Denkmustern des Kalten Krieges verhafteten Staaten war anlässlich der Verabschiedung der AEMR, diese als ethisches Fundament der internationalen Ordnung zu definieren, auf dem das Gebäude der UNO organisch wachsen sollte. Das Fundament war in Rekordzeit gegossen worden. Sofort nach Gründung der Vereinten Nationen 1945, deren Satzung ursprünglich einen Menschenrechtskatalog beinhalten sollte, wurde eine Menschenrechtskommission ins Leben gerufen, die sich rasch dem Entwurf eines umfassenden Menschenrechtsschutzsystems zuwandte.

Schutzsystem mit Lücken

In der zweiten Sitzung der Menschenrechtskommission kristallisierte sich die Idee heraus, eine „International Bill of Human Rights“ zu verabschieden, die aus drei Teilen bestehen sollte: eine Erklärung, ein bindender Menschenrechtsvertrag und eine Vereinbarung über Implementierungsmaßnahmen. Doch die Zeit drängte, und die Kommission rang sich nur dazu durch, die Erklärung zu behandeln. Vertrag und Implementierungsmechanismus fielen – wie auch die in der Satzung vorgesehenen, dem Generalsekretär zu unterstellenden UNO-Streitkräfte – den beschränkten Mitteln und den Zwängen der Politik zum Opfer. An der Achse der beiden nach dem Zweiten Weltkrieg verbliebenen Großmächte – die USA und die Sowjetunion – scheiterten sämtliche Versuche der Festschreibung von Umsetzungsmaßnahmen.

Die Frage bleibt: Wie effektiv wäre das Menschenrechtsschutzsystem der Vereinten Nationen wohl geworden, wenn schon 1948 neben der Erklärung eine bindende Menschenrechtskonvention verabschiedet und konkrete Umsetzungsmaßnahmen beschlossen worden wären? Von diesem Webfehler sollte sich der internationale Menschenrechtsschutz bis heute nicht gänzlich erholen. Aufgrund der sich verhärtenden Konfliktfronten zwischen Ost und West und des politischen Mächtegleichgewichts bei gleichzeitig divergierendem Menschenrechtsverständnis dauerte es bis 1976, bis die – in bürgerliche und politische sowie wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte künstlich aufgeteilten – Internationalen Pakte in Kraft treten konnten. Effektiver Umsetzungsmaßnahmen harrt die Staatengemeinschaft heute noch.

Ihrer Zeit voraus

Die als „allgemein“, englisch: „universal“, konzipierte Menschenrechtserklärung stieß bei ihrer Annahme zwar nicht auf Widerspruch, aber doch auf Vorbehalte. Die Sowjetunion und ihr ideologisch nahe stehende Staaten enthielten sich mangels expliziter Garantie des Selbstbestimmungsrechts der Völker und der prononcierten Stellung von Abwehrrechten der Stimme, Saudi-Arabien kritisierte die säkulare Grundlage und die eurozentrischen Tendenz der Erklärung und Südafrika mit seinem Apartheid-Regime verabschiedete sich auf Jahrzehnte von menschenrechtlichen Grundkonsens. 

Zwar ist nicht abzustreiten, dass für die Ausgestaltung der Menschenrechtserklärung zentrale Figuren wie Eleanor Roosevelt und René Cassin westlichen Menschenrechtstraditionen verpflichtet waren; dass die Allgemeine Erklärung in ihrem Tenor eine Bestätigung von international gültigen, gegen den Staat formulierten individuellen Menschenrechten darstellt; dass sie ideologisch auf den liberalen Individualismus des Westen rekurriert; und dass die bürgerlichen und politischen Rechte stärker vertreten sind (Artikel 1-21). Doch finden sich in der Erklärung auch grundlegende wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Artikel 22-27) und mit Artikel 28 ein Recht auf eine „soziale und internationale Ordnung“, in der die verbrieften Rechte auch realisiert werden können. Damit hat die Generalversammlung schon 1948, so UNO-Sonderberichterstatter Manfred Nowak, die Interdependenz der Menschenrechte vorweggenommen. Formell rang sich die Staatengemeinschaft erst 1993 in Wien zu der Anerkennung der Unteil- und Untrennbarkeit der verschiedenen „Generationen“ von Menschenrechten durch. Die AEMR war somit ihrer Zeit voraus; selbst im Hinblick auf die niedergelegten Rechte: Das Recht auf Asyl (Artikel 14) und das Recht auf Eigentum (Artikel 17) sollten sich in später verabschiedeten, bindenden Menschenrechtskodifikationen teils nicht mehr finden.

Dreifacher Geltungsanspruch

Schwerer als Kritik an den niedergelegten Rechten wiegt die Hinterfragung der Legitimität ihres Geltungsanspruchs: Wie bindend kann eine Erklärung sein, bei deren Ausarbeitung große Teile Asiens und der globale Süden, der 1948 nur marginal eigenberechtigt in das Weltgeschehen eingebunden war, kaum mitwirken konnten? Die vielleicht ein Symbol des Kulturimperialismus ist? (Oder sind vielmehr ihre Kritiker Menschenrechtsrelativisten, die sich aus ideologischen Gründen der universellen Geltung von Menschenrechten verweigern?) Und überhaupt: Kann eine Erklärung Bindungswirkung entfalten?

In der Tat ist die Menschenrechtserklärung Inhalt einer Resolution der Generalversammlung und kein vorderhand bindender Katalog von Menschenrechten. Dennoch heißt das nicht, dass die niedergelegten Rechte wirkungslose Bekenntnisse sind. Vier Argumente sprechen für ihre Relevanz: Einmal stellt die Erklärung, wie Manfred Nowak erinnert, „eine autoritative Interpretation des Begriffs ‚Menschenrechte’ in der UNO-Satzung und damit indirekt Völkervertragsrecht dar.“ Weiters berufen sich neuere Verfassungen – gerade jener Staaten, die an der ursprünglichen Beschlussfassung nicht beteiligt waren – auf die Allgemeine Erklärung, was ihre „moralische, politische und rechtliche Bedeutung“ unterstreicht und Repräsentativitätsmängel zu heilen vermag. Ferner haben manche der in der Erklärung verbrieften Rechte – zu denken ist an das Folterverbot und das Verbot der Sklaverei – über den Umweg des Völkergewohnheitsrechtes Eingang in die internationale Rechtsordnung gefunden.

Diese moralisch gegründete und politisch gefestigte Relevanz der Menschenrechtserklärung wird von der internationalen Menschenrechtsarchitektur der Vereinten Nationen bestätigt. Die zwei wichtigsten Säulen des Schutzsystems, dessen Fundament die Allgemeine Erklärung darstellt, sind die beiden Internationalen Pakte von 1966. Zu den tragenden Gebäudeteilen zählen weiters die ihnen folgenden sektoriellen Menschenrechtverträge der Vereinten Nationen mit ihren jeweiligen Überwachungsorganen mit Berichts- und teils auch Beschwerdesystemen. Wichtige Akteure im Menschenrechtssystem der Vereinten Nationen sind auch das Menschenrechtshochkommissariat, die Menschenrechtskommission sowie ihr Nachfolger, der Menschenrechtsrat, und die Sondermechanismen: länder- und themenspezifische Berichterstatter. Die Förderung der Menschenrechte, deren erste und gültigste Definition sich in der Menschenrechtserklärung findet, ist der große, vielleicht der größte Verdient, den sich die Vereinten Nationen an die Fahnen heften kann. Demgemäß hat Richard Jolly, Hektor der UNO-Geschichtsschreibung, in einem Projekt über die Geistesgeschichte der Vereinten Nationen Menschenrechte als die erste von neuen Ideen identifiziert, mit denen die UNO die Welt bereichert und verändert hat. Nirgendwo findet sich die Idee der unteilbaren, untrennbaren, voneinander abhängigen und aufeinander bezogenen Menschenrechte klarer ausgedrückt und prägnanter formuliert als in der Menschenrechtserklärung.

Nur in Parenthese: In Österreich zeitigt die Menschenrechtserklärung nur bescheidene Wirkungen. Ein „low profile“ attestieren Menschenrechtexperten Wolfgang Benedek und Manfred Nowak der Allgemeinen Erklärung in Österreich. Sie komme kaum im politischen Diskurs vor und werde von Höchstgerichten nur en passant erwähnt – und dann nur, um ihre mangelnde Bindungswirkung aufzuzeigen. Der Grund für die mangelnde diskursive Präsenz der AEMR in Österreich, den die beiden Autoren diagnostizieren, ist indes positiv: Da die Europäische Menschenrechtskonvention in Österreich im Verfassungsrang steht, bedarf es etwa nach Sicht der Gerichte bei menschenrechtlichen Fragestellungen nicht des Rückgriffs auf die Allgemeine Erklärung.

Es gibt aber auch bemerkenswerte Gegenbeispiele, wie die 2001 im Grazer Gemeinderat einstimmig erfolgte Erklärung der steirischen Landeshauptstadt zur „Menschenrechtsstadt“, ein ganzheitlicher Prozess, der in der Tradition der AEMR steht. Die Menschenrechtserklärung war auch Grundlage des Monitorings des Grazer Gemeinderatswahlkampfes 2008, für das der damals von Wolfgang Benedek geleitete Menschenrechtsbeirat Sorge trug. Um die Bekanntheit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zu fördern, wurde schließlich ein Menschenrechtsweg in einem der beliebtesten Grazer Naherholungsgebiete eingerichtet, auf dem man die Allgemeine Erklärung Artikel für Artikel erwandern kann: Am Wegesrand finden sich gut sichtbare Tafeln mit den einzelnen Bestimmungen.

Der Mensch im Mittelpunkt

Doch kehren wir abschließend zurück von der lokalen Verwirklichung des Menschenrechtes, seine Rechte zu kennen, auf die globale Ebene: Als die Menschenrechtserklärung 1948 angenommen wurde, war die internationale Ordnung geprägt von beginnenden Machtspielen zwischen Staaten, die sich in den folgenden Jahren noch intensivieren sollten. Individuen als Träger von Rechten und Pflichten kam in der Nachkriegsordnung eine untergeordnete Rolle zu. Doch mit der Erklärung war ein erster wichtiger Markstein gelegt auf dem Weg zu einer menschenzentrierten internationalen Ordnung, die ihr Handlungsrepertoire nicht mehr ausschließlich durch die Souveränität von Staaten einengen lässt, sondern Instrumente entwickelt, die sich am Wohlergehen der mit einem höheren rechtsmoralischen Schutzanspruch ausgestatteten Menschen orientieren. Diese langsame, von Rückschlägen geprägte Entwicklung ist als Humanisierung des Völkerrechts bekannt geworden. Die Menschenrechtserklärung ist ihr eine zentrale Inspirationsquelle.

1948 wie 2011 ist die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der elementarste Grundrechtskatalog der Weltgemeinschaft und, wie es in der Präambel heißt, „das von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal“. Jedes Jubiläum erlaubt auch den Blick nach vorne. Der Wunsch drängt sich auf, dass sich – um erneut die Präambel aufzugreifen – „jeder einzelne und alle Organe der Gesellschaft […] diese Erklärung stets gegenwärtig halten und sich bemühen, durch Unterricht und Erziehung die Achtung vor diesen Rechten und Freiheiten zu fördern und durch fortschreitende nationale und internationale Maßnahmen ihre allgemeine und tatsächliche Anerkennung und Einhaltung“ zu gewährleisten. Kurz gefasst: Lesen wir sie. Lehren wir sie. Leben wir sie.

Das ist, was Navi Pillay, als den "Imperativ von Tunis" bezeichnet: 

The Declaration laid out the rights necessary for a life of dignity, free from fear and want— from health care, education, and housing, to political participation and the fair administration of justice. It said that these rights belong to all people, everywhere, and without discrimination.
Today, on the streets of our cities, people are demanding that governments and international institutions make good on this promise, with their demands streamed live via internet and social media.  Ignoring these demands is no longer an option.
Rather, governments and international institutions should follow their lead by making a dramatic policy shift toward the robust integration of human rights in economic affairs and development cooperation, and by adopting human rights law as the basis for governance at home, and the source of policy coherence across the international system. This is our mandate for the new millennium. This is the Tunis imperative.

Stefan Zweig schied 1942 aus dem Leben. Hätte er die Annahme der Menschenrechtserklärung 1948 noch miterlebt, er hätte vielleicht seinen Sternstunden der Menschheit eine weitere, eine Sternstunde der Menschlichkeit beigefügt, zumal jener 10. Dezember vor 63 Jahren, dessen wir uns dieses Jahr erinnern, zeitenüberdauernd „den Schicksalslauf der ganzen Menschheit“ unwiderruflich bestimmt hat.


No comments:

Post a Comment